Geschichte der Gemeinde
Utopia in den Sümpfen – der Betsaal in Wilhelmsdorf
Dr. Karlheinz Fuchs, der Autor des folgenden Beitrags, war 1948 einen Sommer lang im Wilhelmsdorfer Kinderheim und von 1954 bis 1956 im "Flattichhaus", dem Kleinen Schülerheim der Korntaler Brüdergemeinde. Er erinnert sich im Gegensatz zu manch anderen in diesen Tagen, nicht ungern an jene Jahre, als eine große Internatsgemeinschaft sich gegenseitig geholfen hat, die Härten der Nachkriegszeit zu lindern. - Wir drucken seinen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Denkmalstiftung Baden-Württemberg ab, in deren Heft 4/2014 er erschienen ist.
Um 1800 war die Welt ins Wanken gekommen, namentlich für die württembergischen Pietisten. Der "Antichrist" Napoleon hatte Europa fest im Griff. Die alte Ordnung war durch die französischen Revolutionstruppen beseitigt, und die Aufklärung begann auch in die lutherisch orthodoxe württembergische Landeskirche einzudringen. Als in den Jahren 1816 und 1817 nach Missernte und Hungerkatastrophe die "letzte Zeit" angebrochen schien, begann sich vor allem in Württemberg eine heftige Auswanderungsbewegung zu formieren, darunter Schwärmer und Separatisten, speziell aber Gegner der Aufklärung und der in ihrem Geist gestalteten neuen Liturgie. Und unter denen fanden sich viele Pietisten, meist gewissenhafte, fleißige und manchmal sogar wohlhabende Leute.
Vom Dandy zum Koloniengründer – Gottlieb Wilhelm Hoffmann
Aber wie sie im Land halten in diesen schweren Zeiten? Die Idee dazu hatte der Leonberger Bürgermeister und Pietist Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771-1846).
Ursprünglich ein Dandy, ein typisch biedermeierlicher Stutzer, der als junger Verwaltungsmann in Calw "ein wenig zuchtvolles Leben" geführt haben soll, wie der Korntaler Pfarrer Fritz Grünzweig 1959 in seiner Brüdergemeinden-Monographie rügt. Es wurde, so Grünzweig, geritten, gespielt und getrunken, wobei sich der junge Verwaltungsmann hoffnungslos verschuldete. Da ereilte ihn die Erweckung. Eine ferne, reiche, längst vergessene Verwandte tauchte auf und löste ihn gewissermaßen aus. Hoffmann wurde fromm, aber kein Frömmler. Als Mitglied der württembergischen Landeskommission während der napoleonischen Kriege zuständig für die Versorgung der durchziehenden Truppen, erwarb er sich politisches Können und Durchsetzungsvermögen.
Hoffmann, mittlerweile Bürgermeister von Leonberg, schlug seinem König zu Beginn des Hungerjahres 1817 vor, die wirtschaftlich eigentlich unentbehrlichen Pietisten in religiös selbständigen Gemeinden unterzubringen – sozusagen in Binnenkolonien nach Art Königsfelds.
Diese 1806 mit königlichem Privileg gegründete württembergische und nach 1810 badische Kolonie oben auf der Baar war nach dem Vorbild der pietistischen Brüdergemeinde Herrnhut in Sachsen entstanden.
Einige Orte im Württembergischen wurden für eine neue Kolonie ins Auge gefasst, unter anderem die Hofdomäne Hohenheim auf den Fildern oberhalb Stuttgarts. Die Wahl fiel dann auf das heruntergekommene Rittergut Korntal nahe der Residenz. Am 12. Januar 1819 hatte es Hoffmann für seine Brüdergemeinde erworben, allein wegen seiner kargen Böden eine harte Prüfung für die weitgehend bäuerlichen Kolonisten. Am 7. November desselben Jahres stand bereits der "Große Saal", das Bethaus, bei dessen Einweihung 8000 Interessierte zugegen gewesen sein sollen.
Kolonie im Sumpf
Korntal war bald zu klein, weitere solcher Kolonien schienen zwangsläufig. Indes warnte König Wilhelms I. Geheimer Rat vor Staaten im Staat. Allenfalls an einen "gemeinnützigen, nationalwirtschaftlichen Zweck" wäre zu denken, etwa "in Oberschwaben die Abtrocknung einer sumpfigen Fläche oder die Urbarmachung eines noch nicht zur Kultur gebrachten Distrikts". So der König, dem es ja von allem Anfang an um die landwirtschaftliche Nutzbarmachung ging.
Man kam auf das "Lengenweiler Ried" westlich von Ravensburg an der Grenze zu Baden, ein Unland - 1823 gab Wilhelm sein Placet für eine Tochterkolonie in dieser trostlosen Sumpfgegend. Die von Korntal ausgesandten Pioniere nannten sie aus devoter Dankbarkeit gegenüber der Obrigkeit, Wesensmerkmal des württembergischen Pietismus, "Wilhelmsdorf". Bald war die Wasserwüste trockengelegt, nach Theodor Steimles Darstellung der württembergischen Brüdergemeinden Korntal und Wilhelmsdorf von 1929 "ein leuchtendes Zeichen schwäbischer Glaubenstreue und schwäbischen Fleißes".
Die Pietisten hatten es als fundamentalistische Protestanten nicht eben leicht in dieser ausschließlich katholischen, streng gegenreformatorischen Gegend. Dort hielt man Wilhelmsdorf anfangs für eine Art Verbrecherkolonie, die Trockenlegungsmühen für Zwangsarbeit, zumal die Pioniere, ausgemergelte Erscheinungen in ärmlichem Arbeitsdrillich, offenbar entsprechend wirkten. Spukgeschichten über die "Neusiedler" machten die Runde und anfangs gönnte man ihnen nicht einmal Trinkwasser. Dennoch hatten sich nach den Trockenlegungen 1824 die ersten zehn Familien niedergelassen, größtenteils aus Korntal. Der Ort war "zweckmäßig" angelegt (Steimle).
Im Bild ist das Benedict-Nimser-Haus zu sehen.
Keiner rage über den anderen
Die für Württemberg so einzigartige Reißbrettplanung, sonst zu dieser Zeit speziell in den Aussiedlerorten Ungarns anzutreffen, stammt von dem Ludwigsburger Landesbaumeister Uber: Vier kreuzförmige Straßen laufen auf den Betsaal als Ortsmittelpunkt zu. Die Häuser waren ursprünglich einstöckig, weil "alle künftigen Bewohner Brüder sind, von denen keiner über den anderen stehen darf - sie sind ja alle gleich vor Gott -, so darf auch kein Dachfirst über den anderen emporragen", heißt es in Johannes Zieglers Roman "Wilhelmsdorf. Ein Königskind" (1929). Dazu war überall die gleiche Einrichtung vorgesehen. Der große Platz um den Betsaal sollte von 16 Häusern umsäumt werden mit quadratischer Grundfläche und vierseitiger Pyramide als Dach. Die vom Bethaus ausgehenden vier Straßen wurden von langen Gebäuden gesäumt, deren Wohnbereiche nach vorne, Ställe und Dunglegen nach hinten gingen. Hoffmann, erfüllt vom Chiliasmus, von den Endzeithoffnungen des württembergischen Pietismus-Vaters Johann Albrecht Bengel, glaubte fest an dessen Berechnungen, wonach im Jahr 1836 Christus wieder auferstehen und den ewigen Frieden bringen werde. Er ordnete an, "was mit einem hölzernen Nagel und mit hölzernem Riegel ausgeführt werden kann, dazu nimmt man keinen eisernen, denn im Jahr 1836 kommt ... der HErr. Alsdann wird alles umgestaltet und unsere Häuser haben keinen Wert mehr."
Doch es kam anders. 1846 nahm Hoffmann die Sorge um ein bankrottes Wilhelmsdorf mit ins Grab. Brüdergemeindliche Korntaler Hilfe und königliche Huld hielten dies in jeder Hinsicht eigentümliche Gemeindewesen am Leben. Um 1850, fünfundzwanzig Jahre nach der Gründung, wurden dann die ersten Häuser aufgestockt. Die architektonische Umsetzung des an "Christianopolis", den utopischen Gottesstaat des Calwer Pietisten Johann Valentin Andreae (1586-1654) erinnernde Kolonie in den Sümpfen des gegenreformatorischen Oberschwaben fand damit ihr Ende. Doch ist Wilhelmsdorf mit seinen Heimen bis heute Erziehungsort geblieben.
Barrierefrei in den Betsaal
Was an diesen kleinen Gottesstaat heute noch erinnert, ist vor allem der Betsaal. Da dies noch immer frequentierte Glaubenshaus von 1828 bisher über keinen barrierefreien Zugang verfügte, eine Außenlösung allerdings diese charaktervolle klassizistische Erscheinung optisch völlig verdorben hätte, hat man sich zu einer - wesentlich teureren - inwendigen Lösung entschlossen, an der die Denkmalstiftung mit 15 000 Euro beteiligt ist.
Dr. Karlheinz Fuchs
Fotos: Karl G. Geiger, Stuttgart, Beileger 4/2014, Denkmalstiftung Baden-Württemberg
Foto barrierefreier Eingang: Christoph Lutz, Wilhelmsdorf